Thronreden

05. April 1955

Thronrede, Fürst Franz Josef II.

Aufklappen und Zuklappen

Thronrede anlässlich der Eröffnung des Landtages am 5. April 1955


Gemäss den Bestimmungen unserer Verfassung habe ich Sie heute zur Erffnung der diesjährigen Sessionsperiode einberufen. Diese Gelegenheit gibt mir Anlass, über eine grundsätzliche Frage zu sprechen, welche nicht nur das politische, sondern auch das wirtschaftliche und soziale Leben unseres Volkes direkt und indirekt zutiefst bewegt, nämlich über die Frage der demokratischen Staatsform.

Wir haben erlebt, dass in den letzten Jahrzehnten in Europa und auf anderen Kontinenten demokratische Regierungsformen von einer totalitären Staatsform abgelöst wurden, und zwar nicht deshalb, weil das eine nach aufwärts führende Entwicklung bedeutet, sondern wegen des Versagens der betreffenden Völker oder grosser, oder politisch einflussreicher Teile dieser Völker. Eine demokratische Staatsform bedeutet, wie es das Wort Demokratie schon betont, dass die Macht beim Volk liegt, dass das Volk seine politischen Geschicke selbst leitet. Auch in einer konstitutionellen Monarchie, wie es Liechtenstein ist, bestimmt und leitet das Volk in weitestgehendem Masse die Politik Selbstregierung durch das Volk bedeutet aber auch für jeden Bürger weitestgehende politische Rechte, die wieder die persönliche, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Freiheit und Gleichberechtigung aller Bürger einschliessen.

Wenn man als freier Mensch mit Erfolg sich selbst regieren will, so liegt darin zwangsmässig die Forderung begründet, dass man sich selbst Schranken auferlegt und Pflichten übernimmt Wirkliche Freiheit ohne Beschränkungen und Verpflichtungen, die der Mensch auf sich nimmt, gibt es nicht, denn sonst entartet die Freiheit in eine Anarchie, die zwangsläufig zur Unfreiheit und Knechtschaft führt. Jeder Bürger und Jede öffentliche private Institution hier im Lande, die sich mit Fragen des öffentlichen Interesses befasst, hat diese Bedingungen zu beachten, sei es nun der Landesfürst, der einzelne Bürger, die Gemeinden, die Behörden und Regierung, der Landtag, die politischen Parteien und wirtschaftlichen Interessenverbände. Wenn ich mich auch einfach begnügen könnte zu sagen: «Fusst Euer Urteil, Liechtensteiner, im politischen Leben auf Grund Euerer christlichen Religion und handelt und lebt im privaten und öffentlichen Leben als Christen, da Ihr dann gute Staatsbürger sein werdet», so möchte ich doch einzelne, mir besonders wichtig erscheinende Punkte betonen.

Der Bürger hat die Pflicht, sich für die Fragen des staatlichen Lebens zu interessieren und soweit es seine physischen, geistigen und wirtschaftlichen Kräfte gestatten, mitzuarbeiten an dessen Gestaltung. Nicht jeder hat die Möglichkeit und Fähigkeiten, Politiker zu werden, aber jeder Bürger kann im täglichen Leben durch Wort und Tat für das eintreten, was nach seiner Ansicht richtig ist, und so mitwirken im Dienste des staatlichen Lebens. Ich brauche, glaube ich, nicht zu betonen, dass die Zeiten der Wahl oder eines Referendums Zeitabschnitte sind, in denen der Liechtensteiner mit besonderem Eifer sich seinen Bürgerpflichten widmen sollte. Der Bürger hat natürlich die Pflicht und das Recht seine Interessen zu wahren. Er soll aber nicht versuchen, unberechtigte Ansprüche und Vorteile auf Kosten des Nebenmenschen und der Allgemeinheit durchzusetzen und so den Staat zu schädigen. Soll das öffentliche Leben in der Zukunft ungestört weitergehen, so brauchen wir eine Jugend, die entschlossen ist und auch den notwendigen idealen Schwung hat, ihre Pflichten als Staatsbürger ganz zu erfüllen, wenn einmal ihre Zeit gekommen ist. Es ist ohne Zweifel eine Aufgabe des Bürgers, seine Kinder zu erziehen und vorzubereiten auf ihre Pflichten im öffentlichen Leben. Der älteren Generation stellt sich die Aufgabe, durch ihr Beispiel der Jugend zu zeigen, wie man als Staatsbürger der Allgemeinheit dienen soll. Der demokratische Staat kann nur weiterbestehen, wenn die Menschen teilnehmen am öffentlichen Leben und aktiv mitarbeiten, sonst stirbt er langsam ab. Unter allen Staatsformen fordert die Demokratie die grösste Hingabe, Interessennahme und Treue von den Bürgern.

In vermehrtem Masse gelten natürlich die Bürgerpflichten gegenüber dem Staat für den Abgeordneten, denn er muss im Auftrag des Volkes das Staatsleben führen und überwachen und erscheint neben dem Staatsoberhaupt und Regierungschef als Repräsentant des Landes und Volkes im In- und Auslande. Der Abgeordnete soll seine Wahl als Auftrag betrachten, sich ständig und intensiv mit den Geschicken des Volkes und Staates zu befassen und zwar unter Hintansetzung persönlicher Gruppen- oder Parteiinteressen. Einzelinteressen dürfen nie zum Schaden der Allgemeinheit durchgesetzt werden. Der Abgeordnete möge sich bewusst sein, dass er nicht als Vertreter einer Partei, sondern des ganzen Landes und Volkes gewählt wird. Die Partei soll für den Abgeordneten eine Hilfe sein für seine Tätigkeit im Dienste der Allgemeinheit, ein Sprachrohr durch ihre Parteiversammlungen und Presse, wenn er ausserhalb des Landtages sein Wort an die Allgemeinheit richtet, und ein Beratungsorgan für ihn, wenn er wichtige Fragen des öffentlichen Lebens bearbeitet. Niemals soll die Partei sich absolute Autorität anmassen gegenüber dem Abgeordneten und ihn zwingen, gegen seine bessere Überzeugung im Landtag zu sprechen und zu handeln. Nicht ohne tieferen Grund betont schon und verpflichtet der Eid den Abgeordneten, im Landtage das Wohl des Vaterlandes ohne Nebenrücksichten nach bestem Wissen und Gewissen zu fördern. Ein absolutes Parteiregiment im Landtage wäre eine Scheindemokratie und würde den einzelnen Bürger seiner politischen Rechte berauben. Die Existenz von Parteien in einer Demokratie ist bedingt durch die Form, in der die politische Willensbildung zustande kommt Die Parteien können der Allgemeinheit nützliche Dienste leisten, so lange sie sich Schranken in ihrer Tätigkeit auferlegen und nicht versuchen, auf das dem Wesen der Demokratie entsprechende freie politische Leben einen ihm wesensfremden Zwang auszuüben. Wer, wie der Abgeordnete, berufen ist das staatliche Leben zu führen und zu überwachen, wird öfters in Erfüllung seiner Aufgaben unberechtigten Wünschen und Forderungen Einzelner, von Gruppen oder seiner Partei gegenüberstehen und sie nach gewissenhafter Überlegung ablehnen müssen, um nicht das allgemeine Interessen zu verletzen. Auch kann der Bürger, der die Abgeordneten zu seinen politischen Repräsentanten und Führern wählt, mit Recht erwarten, dass sie ihm gegenüber, falls notwendig und selbst wenn es unangenehm wäre, offen die Wahrheit aussprechen, ihn belehren und ermahnen und auch Beschlüsse setzen, die nicht den Gefühlen des Bürgers schmeicheln. Solche Reden und Beschlüsse sind wertvoller und nutzbringender für die Öffentlichkeit als allzuviele sich in Konkurrenz stehende Gunstbezeigungen und freundliche Worte zum Fenster hinaus.

Ich brauche nicht weiter auszuführen, so bekannt ist es der Allgemeinheit, dass ein Staat sich aufbaut auf der Familie als kleinstem aber wichtigstem Baustein, da er zuunterst das Fundament bildet, auf dem alles ruht; eine gesunde christliche Familie ist dafür die Voraussetzung. Ich will aber diesmal auf einen anderen wichtigen Baustein im Gefüge des staatlichen und öffentlichen Lebens hinweisen, nämlich den politischen Selbstverwaltungskörper der Gemeinde. Während in grossen Staaten neben den Gemeinden noch andere politische Selbstverwaltungskörper den staatlichen Aufbau formen, sind es in Liechtenstein nur die Gemeinden allein. Die Gemeinde soll im Kleinen das Leben einer Demokratie darstellen und dem Bürger, der in ihr lebt, an diesem einfacheren und anschaulichen Beispiel zeigen, wie die Demokratie in Wirklichkeit aussieht und funktioniert. Die Gemeinden haben bei uns in Liechtenstein die überaus wichtige Bestimmung, alle Aufgaben zu übernehmen und im eigenen Wirkungsbereich zu lösen, die wohl im Interesse der Allgemeinheit den politischen, öffentlichen Institutionen überbunden werden, die aber nicht unbedingt die Zentrale «Staat» zu erledigen braucht Mit Aufgaben, die nur im Interessenbereich der Gemeinden liegen, sollte sich der Staat überhaupt nicht befassen müssen, ausgenommen als Aufsichts- und Rekursbehörde/ wo es die Lage der Dinge erfordert. Es genügt nicht, wenn die Gemeinden auf ihr Recht und ihre Kompetenzen pochen, sie müssen auch entschlossen sein, die ihnen laut Gesetz zukommenden Pflichten- und Aufgabenbereiche zu erfüllen. Nur wo unbedingt notwendig, hat die politisch und finanziell stärkere Hand des Staates einzugreifen. Ein wirklich demokratisches Leben besteht nur, wenn die Kompetenzen so viel als möglich dezentralisiert und den in der Rangordnung des öffentlichen Lebens weiter unten stehenden politischen Selbstverwaltungskörpern überantwortet werden. Zentralisierung und die damit verbundene Bürokratisierung ist nämlich der Tod der Demokratie.

Es ist meiner Ansicht nach allen Bürgern genau bekannt, und daher nicht notwendig länger auszuführen, dass die Behörden, vor allem die Regierung als oberste Behörde, in der Erfüllung ihrer Arbeit und Pflichten dem Bürger mit gutem Beispiel vorangehen müssen. Als Richtschnur hat der Regierung und den Behörden der Grundsatz strengster Objektivität zu gelten neben gewissenhafter und fleissiger Arbeit. Strengste Objektivität bedeutet, dass bei der Wahrung und Bearbeitung allgemeiner oder privater Interessen die zuständige Behörde bestehende Rechtsgrundsätze achtet und nicht an deren Stelle unberechtigte Voreingenommenheit oder selbstsüchtige Motive des eigenen Gruppen- oder Parteiinteresses treten lässt. Ich glaube/kein normal denkender, rechtschaffener Mensch wird leugnen, dass das öffentliche Leben seinen normalen Gang nicht nehmen kann ohne gewissenhaft arbeitende Behörden.

Als ich vorhin neben dem einzelnen Bürger verschiedene öffentliche und private Institutionen nannte, die sich in Liechtenstein mit Fragen des öffentlichen Interesses befassen, da erwähnte ich auch die Wirtschaftsverbände. Unter dieser Bezeichnung verstehe ich die allgemeinen Interessenverbände, die jeder einen grossen Teil unseres Volkes sowohl nach Anzahl als auch an Wirtschaftsmacht umfassen, wie Gewerbeverband, Arbeiter- und Bauernverein, Industriekammer. Aber ich verstehe unter dieser Bezeichnung auch kleine Gruppen, die enger umgrenzte wirtschaftliche Interessen wahren. Die Wirtschaftsverbände können, und sind auch dazu berufen, in einer Demokratie eine sehr grosse und nützliche Rolle zu spielen. Ein wichtiger Pfeiler, auf dem das demokratische Leben ruht, ist der Grundsatz, dass, soweit es das öffentliche Interesse zulässt, der privaten Initiative freie Bahn gelassen wird. Nur dort/ wo notwendig, soll die öffentliche Hand eingreifen. Es führt nämlich wiederum zwangsläufig zu einer ungesunden Zentralisierung und Verbürokratisierung und damit zum Absterben des demokratischen Lebens mit seinen Freiheitsrechten, wenn man alles oder zumindest möglichst viel der Initiative der öffentlichen Hand zuweist, also bei uns in Liechtenstein dem Lande und den Gemeinden.

Wenn ich jetzt zu Ihnen gesprochen habe über einige Aufgaben und Pflichten des einzelnen Bürgers, des Abgeordneten, der Behörden, der Gemeinden und Wirtschaftsverbände in einer demokratischen Monarchie, so möchte ich noch folgendes hinzufügen. So wie jeder in der Gemeinschaft des Staates seine Pflichten hat, so habe ich solche, und zwar als Landesfürst vielleicht in besonderem Masse. Worin diese Pflichten bestehen, ist in der Verfassung festgelegt wie sie erfüllt werden sollen, sagt einem mit der Hilfe Gottes das Gewissen. Aber der menschlichen Schwachheit, der wir alle unterliegen, ist es eine grosse Hilfe, wenn sich zu den Prinzipien das Vorbild der Pflichterfüllung durch den Nebenmenschen, das Gefühl der Achtung und herzlichen Verbundenheit gesellen. Meine Verantwortung trage ich mit Freude in dem Bewusstsein, dass das Volk von Liechtenstein mit mir verbunden ist in der Liebe zum gemeinsamen Vaterlande.

Ich bitte Gott, er möge unsere Arbeit segnen, dass sie wohlgetan sei und Früchte trage.