Interpellation zum Risiko Erwerbsarmut der Abgeordneten Helen Konzett Bargetze, Thomas Lageder und Wolfgang Marxer vom 22. Juli 2016
Landtagspräsident Albert Frick
Sehr geehrte Frauen und Herren Landtagsabgeordnete, wir fahren mit den Beratungen fort. Wir kommen zu Traktandum 7 der öffentlichen Landtagssitzung: Interpellation zum Risiko Erwerbsarmut der Abgeordneten Helen Konzett Bargetze, Thomas Lageder und Wolfgang Marxer vom 22. Juli 2016. Wird seitens der Interpellanten das Wort gewünscht?Abg. Helen Konzett Bargetze
Besten Dank für das Wort. Gestützt auf Art. 45 der Geschäftsordnung vom 19. Dezember 2012 für den liechtensteinischen Landtag, Landgesetzblatt 2013 Nr. 9, reichen die unterzeichneten Abgeordneten, also die Vorgenannten, eine Interpellation ein und laden die Regierung ein, nachfolgende Fragen zum Risiko für Erwerbsarmut in Liechtenstein zu beantworten.- a) Wie viele in Liechtenstein wohnhafte Personen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren mit einem Beschäftigungsgrad von 90% oder mehr haben unter der Annahme, dass sie alleinstehend und kinderlos sind sowie über kein Vermögen verfügen, Anspruch auf welche staatlichen Transferleistungen in welcher Höhe?
b) Wie hoch ist der Anteil der Personen in dieser Altersklasse, deren Erwerbseinkommen nach Steuern, Sozialabgaben und Transferleistungen weniger als 60% des Medianeinkommens nach Steuern und Sozialabgaben in dieser Altersklasse beträgt? Wie viele Personen sind dies in absoluten Zahlen?
c) Wie verändern sich diese Werte, wenn die Krankenkassenprämien gleich wie Sozialabgaben berücksichtigt werden? - a) Wie viele in Liechtenstein wohnhafte Paare hätten unter der Annahme, dass die Vollzeitbeschäftigten zwischen 30 und 49 Jahren gemeinsam mit einem Partner ein Arbeitspensum von 150% im unteren Lohnsegment absolvieren, sie über kein Vermögen verfügen und zwei Kinder zu versorgen haben, Anspruch auf welche Transferleistungen in welcher Höhe? Wie hoch ist unter diesen Voraussetzungen das verfügbare Einkommen nach Sozialabgaben, Steuern und Transferleistungen?
b) Wie hoch ist der Anteil der Familien in dieser Altersklasse, deren Erwerbseinkommen nach Sozialabgaben, Steuern und Transferleistungen weniger als 60% des Einkommens nach Steuern einer mittleren Familie - ebenfalls mit einem gemeinsamen Arbeitspensum von 150%, jedoch mit einem mittleren Einkommen, und mit zwei Kindern - beträgt? Wie viele Familien sind dies in absoluten Zahlen?
c) Wie verändern sich diese Werte, wenn die Krankenkassenprämien gleich wie Sozialabgaben berücksichtigt werden? - a) Welche zielgenaueren Möglichkeiten für eine statistische Aufarbeitung der Erwerbsarmut würde es noch geben?
b) Wird bei der Prüfung der Lohnausweise in der Steuerverwaltung der Beschäftigungsgrad erfasst und wäre dieser somit bei den unselbstständig Beschäftigten bekannt? Wie hoch wäre der zusätzliche Arbeitsaufwand, wenn dies bisher nicht gemacht wird, aber in Zukunft für die statistische Aufarbei- tung genutzt werden würde? Wie könnte zudem der Beschäftigungsgrad der selbstständig Beschäftigten ermittelt werden, um einen Überblick über die Gesamtsituation zu erlangen?
- Welchen Stellenwert nimmt für die Regierung die Bekämpfung der relativen Armut ein? Welche Berücksichtigung findet das breiter gefasste Anliegen, eine gleichmässigere Einkommensverteilung zu erreichen?
- Welche zielgerichteten Massnahmen bestehen, um Erwerbsarmut zu verhindern?
Zur Begründung der Interpellation: Die liechtensteinischen Statistiken liefern eine Reihe wertvoller Daten. In einigen Bereichen fehlt jedoch eine Verknüpfung verschiedener Datensätze, was die Möglichkeit, Schlüsse zu ziehen oder Vergleiche anzustellen, wesentlich einschränkt. Insbesondere im Bereich Vermögens- und Einkommensverteilung sind die statistischen Informationen unbefriedigend. Die Landtagsfraktion der Freien Liste möchte deshalb mittels einer Interpellation die Validität der vorhandenen Schlüsse prüfen und die internationale Vergleichbarkeit verbessern. Unter anderem lässt die Steuerstatistik bisher nicht zu, die Einkommensverteilung darzustellen, da über Einkommen aus Vermögen, die auf internationaler Ebene gewöhnlich mitberücksichtigt werden, keine individuell zurechenbaren Daten vorliegen. Mit einer Berücksichtigung der Vermögensverteilung unter bestimmten Annahmen können die tatsächlichen Einkommensverhältnisse aber immerhin geschätzt werden.Wertvolle Informationen sind auch der Lohnstatistik zu entnehmen. Da ein grosser Teil der Bevölkerung über kein nennenswertes Vermögen verfügt, ist der Erwerb vor allem bei den unteren Einkommensklassen zentral und die Daten aus der Lohnstatistik geben einen Einblick in die ihnen zur Verfügung stehenden Personen- beziehungsweise Haushaltsbudgets. Die Lohnstatistik bringt eine beunruhigende Situation zutage. Das Einkommen eines bedeutenden Teils der Personen, die in Liechtenstein einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen, liegt unterhalb der Schwelle von 60% des Medianlohns, was als Schwelle zu relativer Armut angesehen wird. Gemäss der Lohnstatistik 2012 betrug der Medianlohn CHF 6380. Die relative Armutsgrenze lag mithin bei CHF 3828. 10,1% der Vollzeitbeschäftigten in Liechtenstein erzielen ein Einkommen von maximal CHF 4000; bei 2,4% der Beschäftigten liegt das Einkommen zwischen CHF 2001 und CHF 3000, bei 7,7% zwischen CHF 3001 und CHF 4000. Ohne Steuern und Transferleistungen dürfte also der Anteil derjenigen, die trotz Vollbeschäftigung als arm gelten - der Anteil der sogenannten Working Poor - bei mindestens 8% liegen. Rund jede und jeder zwölfte Vollbeschäftigte unterhalb der Armutsgrenze ist eine unhaltbare Situation. Und diese Situation hat sich innerhalb kurzer Frist zum Schlechteren verändert. Wie es in der Lohnstatistik heisst, ist die Lohnverteilung insgesamt zwar gleich geblieben. Der Bruttomonatslohn des dritten Quartils lag 2010 und 2012 um 74% höher als jener des ersten Quartils. Aber der maximale Lohn des ersten Quartils ist 2012 gegenüber 2010 relativ zum Medianlohn gesunken. Die Situation der unteren Lohnklassen hat sich also eher verschlechtert.Gegen diese durch den Arbeitsmarkt erzielte Verteilung werden einige staatliche Ausgleichsmassnahmen ergriffen - insbesondere durch progressive Steuern und die Prämienverbilligung sowie Mietbeihilfen und das Kindergeld bei Familien. Wie gut diese wirken, ist aber der Statistik nicht zu entnehmen, da insbesondere die Daten der Lohnstatistik nicht mit Informationen über die Familienverhältnisse verknüpft sind. Annäherungen an die tatsächliche Verbreitung von Erwerbsarmut können Modellrechnungen bieten. Sie können aufzeigen, welche Chancen Einzelpersonen oder Paare beziehungsweise Familien haben, durch Transferleistungen und das Steuersystem trotz geringem Erwerbseinkommen auf ein verfügbares Einkommen zu gelangen, das mindestens 60% des mittleren Einkommens vergleichbarer Einzelpersonen oder Paare beziehungsweise Familien beträgt. Hierzu noch eine Bemerkung: Mit einer Armutsgrenze bei 60% setzt die Interpellation relativ hoch an. Bei dieser Schwelle spricht man meist noch von Armutsgefährdung. Wir möchten jedoch als Kontrast zur sehr tiefen Schwelle, die die Regierung heranzieht, nämlich dem Existenzminimum gemäss Sozial-hilfeverordnung, eine relativ hohe Schwelle gegenüberstellen. Damit kann das ganze Spektrum abgebildet werden. Selbstverständlich steht es der Regierung frei, zusätzlich Berechnungen bei einer Schwelle von 40 oder 50% des Medianeinkommens durchzuführen.Ich komme zum Schluss: Die Interpellanten bitten die Regierung, mit den Daten der in Kürze erscheinenden Lohnstatistik 2014 in dieser Hinsicht eine Sonderauswertung vorzunehmen. Da die Datenerfassung und -aufarbeitung offenbar relativ viel Zeit beanspruchen, müssen die neuesten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt wohl unberücksichtigt bleiben. Es erscheint aber dennoch sinnvoll, bei denjenigen Aspekten, bei denen es möglich ist - insbesondere bei den Krankenkassenprämien -, das Jahr 2016 zugrunde zu legen - unter der Annahme, dass die Lohnstruktur gleichgeblieben ist. Wenn es bessere Möglichkeiten gäbe, das Risiko für Erwerbsarmut in Liechtenstein einzuschätzen, bitten die Interpellanten die Regierung, diese aufzuzeigen.Zudem interessiert die Interpellanten, welchen Stellenwert die Regierung der relativen Armut im Unterschied zur absoluten Armut beimisst und welche gezielten Schritte zur Bekämpfung der Erwerbsarmut unternommen werden - abgesehen von allgemeinen Massnahmen, vor allem Investitionen in ein gutes Bildungssystem, welche längerfristig ebenfalls eine gleichmässigere Einkommensverteilung bewirken. Besten Dank. Landtagspräsident Albert Frick
Vielen Dank. Keine weiteren Wortmeldungen. Wir werden die Interpellation an die Regierung weiterleiten. Damit haben wir Traktandum 7 erledigt.-ooOoo-